M. de Keizer u.a. (Hrsg.): Een Open zenuw

Cover
Titel
Een open zenuw. Hoe wij ons de Tweede Wereldoorlog herinneren


Herausgeber
de Keizer, Madelon; Plomp, Marije
Erschienen
Anzahl Seiten
558 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Strupp, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Studien zur zeitgeschichtlichen Erinnerungskultur haben Konjunktur, und nur wenige historiografische Ansätze dürften dabei so einflussreich gewesen sein wie die auf den französischen Historiker Pierre Nora 1984 zurückgehenden „lieux de mémoire“. In Deutschland liegen mit den dreibändigen „Deutschen Erinnerungsorten“ von Etienne Francois und Hagen Schulze, den „Erinnerungsorten der DDR“ von Martin Sabrow und weiteren regional oder lokal ausgerichteten Bänden inzwischen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen vor, die das Konzept variieren.

Auch der Sammelband über die niederländische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, den Madelon de Keizer und Marije Plomp zum 65-jährigen Jubiläum des renommierten Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD) in Amsterdam zusammengestellt haben, ist an die Idee realer und virtueller Erinnerungsorte angelehnt. Die Herausgeberinnen, beide Mitarbeiterinnen am NIOD, fassen das Konzept aber weniger statisch auf als manche ihre Vorgänger und entgehen damit auch der Gefahr einer vorschnellen Kanonisierung bestimmter Orte, Ereignisse oder Personen. Stattdessen legen sie den Schwerpunkt auf die Umdeutungen und die Neuschaffung von Erinnerungsorten, die sich in den Niederlanden mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg seit den späten 1980er-Jahren beobachten lassen.

Diese Veränderungen haben ihre Ursachen in dem Ende des Kalten Kriegs ebenso wie in dem beschleunigten Prozess der europäischen Einigung oder den Anschlägen vom 11. September 2001 – Entwicklungen, die für das kleine Land und Sprachgebiet der Niederlande grundlegende Fragen nach der Bewahrung der eigenen Identität und seiner gesellschaftlichen und kulturellen Werte aufgeworfen haben, die in emotional aufgeladene Diskussionen mündeten. In diesem Zusammenhang haben lange gültige nationale Interpretationsmuster des Zweiten Weltkriegs an Gewicht verloren. Die Herausgeberinnen sprechen einerseits von einer „Entmythologisierung“ und „Europäisierung“, andererseits von einer zunehmenden Diversifizierung der Erinnerung auf regionaler und lokaler Ebene. Außerdem beanspruchen vermehrt einzelne soziale Gruppen ihren spezifischen Anteil an der Erinnerung an den Krieg und entwickeln eigenständige Erinnerungsorte und Ausdrucksformen des historischen Gedächtnisses. Ebenfalls relativ neu sind schließlich Tendenzen im Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg, die sich als eine Suche nach Authentizität und möglichst direktem Kontakt mit der Vergangenheit beschreiben lassen.

Die aufgenommenen Beispiele in den 47 kurzen Essays von meist nur 10-12 Druckseiten haben ganz unterschiedlichen Charakter: Sie reichen von konkreten Orten, vor allem Denkmälern, über Institutionen wie das niederländische Rote Kreuz oder den Londoner Exilsender Radio Oranje, Personengruppen wie die „Englandfahrer“ und Ereignisse wie den Februarstreik 1941 oder den Hungerwinter bei Kriegsende bis hin zu der Losung „Das darf nie wieder geschehen“, die nach 1945 in der niederländischen politischen Kultur in unterschiedlichen Zusammenhängen von großer Bedeutung war. Eine Stärke des Bandes ist der gleichgewichtige Blick auf den Krieg in Europa, der in den Niederlanden jahrzehntelang die Erinnerung und den öffentlichen Umgang mit den Betroffenen dominiert hat, und die japanische Besatzungsherrschaft in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. So finden sich neben Beiträgen zu der 1940 gescheiterten niederländischen Verteidigung am Grebbeberg, der Razzia von Putten 1944 oder dem Holocaust auch Essays über den „indischen“ Widerstand, die Molukker oder den japanischen Kaiser.

Die letztgenannten Beiträge und knapp ein Dutzend weitere unterstreichen, dass der Krieg in Ostasien erst seit den 1980er-Jahren im historischen Bewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten „angekommen“ ist. Die Erinnerung daran ist gebrochen durch die unterschiedlichen Schicksale und Erfahrungen kriegsgefangener niederländischer Soldaten, ihrer in Lager deportierten Familienangehörigen, beim Eisenbahnbau eingesetzter niederländische Zwangsarbeiter, der zur Prostitution gezwungenen „Trostmädchen“ des japanischen Militärs und schließlich der in den späten 1940er-Jahren in die Niederlande übergesiedelten Molukker. Das weitgehende öffentliche Desinteresse an den Erfahrungen dieser Gruppen und der kühle, bürokratische Empfang in der „Heimat“ standen in krassem Gegensatz zu der großen Bedeutung, die die europäische Kriegserinnerung spätestens seit den frühen 1960er-Jahren in der niederländischen politischen Kultur annahm. Erst 2001 wurde zugunsten der „indischen“ Niederländer eine Stiftung ins Leben gerufen und in Den Haag mit offizieller Unterstützung das „Indische Haus“ als Erinnerungs- und Begegnungsstätte eröffnet. Die in dem Band behandelten „indischen“ Denkmäler im Bronbeekpark in Arnheim, in Den Bosch, Moordrecht und Vaassen sind ebenfalls alle neueren Datums.

Die Entwicklungen auf dem europäischen Schauplatz, insbesondere die Judenverfolgung, spielen in der niederländischen Erinnerungskultur aber immer noch eine große Rolle. Dies verdeutlichen Beiträge unter anderem über Anne Frank, den Künstler Armando, den Deportationsort Hollandsche Schouwburg in Amsterdam, das Lager Westerbork, das 1988 eingeweihte Denkmal zum jüdischen Widerstand und das 1989 enthüllte Denkmal am Standort des ehemaligen jüdischen Waisenhauses in Amsterdam, aus dem die Deutschen 1943 rund 100 Jungen in das Vernichtungslager Sobibor deportierten. Die Erinnerung an die Judenverfolgung kann gerade durch ihre große Präsenz in der Öffentlichkeit in politischen Auseinandersetzungen aber auch zur gezielten Provokation genutzt werden, wie sich im April 2002 während einer pro-palästinänsischen Demonstration in Amsterdam zeigte, bei der Hakenkreuze, Vergleiche zwischen Israel und dem NS-Regime und schließlich die Parole „Hamas, Hamas, alle Juden ins Gas“ verbreitet wurden. Dass sich über die Erinnerung an den Krieg für jüngere Migranten auch positive Bezüge zu ihrer neuen Heimat herstellen lassen, belegt dagegen der französische Soldatenfriedhof in Kapelle in Seeland, auf dem auch einige marokkanische und algerische Soldaten begraben liegen. Seit Mitte der 1980er-Jahre und vermehrt seit 2001 werden dort marokkanisch-stämmige Niederländer in die Gedenkveranstaltungen einbezogen.

Die Ressentiments gegenüber Deutschen, die noch Anfang der 1990er Jahre nach einer breit rezipierten Meinungsumfrage unter Jugendlichen für politische Aufregung sorgten, haben inzwischen ihre historische Basis weitgehend verloren und teilweise einen selbstironischen Charakter angenommen, wie sich am Beispiel der Losung „Erst mein Fahrrad zurück …“ zeigt: In den 1950er- und 1960er-Jahren noch Ausdruck ernst gemeinter Klage über die deutsche Ausplünderung des Landes in der Besatzungszeit – wobei die Anzahl der geraubten Fahrräder gar nicht so groß war –, steht der Spruch inzwischen eher für den spöttischen Blick von Karikaturisten und Kabarettisten auf die Beschäftigung mit der Kriegsvergangenheit.

Selbstverständlich kann ein solcher Band nicht alles behandeln, und manche Auslassungen sind durch die thematische Fokussierung auf den Wandel der letzten zwanzig Jahre gut zu begründen: So sind Konflikte und Affären der 1960er- und 1970er-Jahre – von den Auseinandersetzungen um die Hochzeit der Thronfolgerin Beatrix mit dem deutschen Diplomaten Claus von Amsberg 1965 bis zum Rücktritt des CDA-Fraktionsvorsitzenden Wim Aantjes 1978 nach kontroversen Enthüllungen über seine Kriegsvergangenheit – zwar ein wichtiger Bestandteil des niederländischen Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg, aber heute nicht mehr prägend für das historische Bewusstsein. Das gilt auch für die „Drei von Breda“, die letzten in den Niederlanden inhaftierten deutschen Kriegsverbrecher. Ihr Schicksal hatte jahrzehntelang für heftige öffentliche Debatten gesorgt, die sich nach der Freilassung 1989 und dem Tod der beiden letzten Inhaftierten noch im gleichen Jahr aber rasch erledigten.

Insgesamt bietet der sorgfältig edierte und illustrierte Band eine Fülle an Anregungen für weitere Untersuchungen zum Wandel des historischen Bewusstseins in den Niederlanden in der jüngeren Vergangenheit ebenso wie für vergleichende Studien auf internationaler Ebene.

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